Agentur und das Einzige, was Händlern bleibt.
Beim Umbau der Autoindustrie denkt jeder an Batteriezellen, Elektrofahrzeuge und Software. Die Probleme haben Hersteller, und vielleicht noch Zulieferer.
Die Grösse und Bedeutung des Vertriebsnetzes eines Herstellers werden dabei häufig übersehen. Die Schwierigkeiten chinesischer Importeure, sich im europäischen Markt zu etablieren, deuten darauf hin, wie wichtig ein funktionierendes Vertriebsnetz sein kann.
Im Handel spielt sich der grösste Umbau ab. Und der betrifft fast 400.000 Menschen allein in Deutschland.
Heute spreche ich dazu mit Tobias Bald. Tobias hat einst eines der ältesten Mercedes Autohäuser in Deutschland geführt und hat später mit Partnern Panoff Consulting gegründet. Panoff ist eine deutschsprachige Boutiqueberatung, spezialisiert auf den Autohandel, und Tobias Bald zählt zu den Praktikern unter den Beratern.
Allererste Frage. Tobias, was ist dein Traumauto?
Tobias Bald: Mein Traumauto ist ein Mercedes Benz 1969 280 SL genannt Pagode.
Und ich hatte schon mal eine, die ich allerdings leider in einer Anwandlung einer Gefühlslage verkauft habe, was ich heute sehr bereue.
Ich kann mit den alten Autos viel mehr anfangen. Allein das Design kommt meinen Vorstellungen von Ästhetik und Schönheit viel näher als das Meiste, was heute neu entwickelt wird.
Hast du eine Erklärung dafür? Viele Leute aus der Industrie lieben alte Autos. Ist alles dabei, sehr viele Porsches, aber auch Maserati hatten wir schon dabei. Was vermutest Du, warum das so ist?
Tobias Bald: Diese Autos sprechen mein Bedürfnis nach Klarheit, Einfachheit und Authentizität an. Das war ein Auto, wo du wusstest, es hat eine Mechanik. Wenn was kaputt war, wusste man, was an der Mechanik kaputt war. Es war transparent, es hat gelebt, man konnte daran arbeiten.
Jetzt sind die modernen Autos intransparent und nicht mehr nachvollziehbar für mich. Die Komplexität ist zu gross geworden und damit die Abhängigkeit von Spezialisten.
Wenn ich mir allein angucke, wie lange es dauert, eine Diagnose durchzuführen an den aktuellen Modellen, wie viel Software da drinsteckt, das ist nicht mehr greifbar für mich und deswegen spricht es mich auch nicht mehr an.
Was mich anspricht, ist etwas, was mich auch emotional erreicht. Und das hat die Pagode getan. Zudem ist die Lebensweise, wenn du mit so einem Auto eine Reise machst, natürlich eine ganz andere, weil du die Kraft noch gespürt hast, das Gewicht des Fahrzeuges und die Umwelt viel direkter wahrnimmst.
Diese Einfachheit, Klarheit und Transparenz der Autos früher macht das das Auto-Verkaufen heute anspruchsvoller.
Tobias Bald: Ich glaube schon.
Wenn ich mich in die Lage potenzieller Kunden versetze, ist es eine grosse Herausforderung, die Differenzierungsmerkmale zwischen verschiedenen Modellen herauszufinden. Die Autos sind vergleichbarer geworden in Design und Technik. Was macht jetzt eigentlich den Vorteil dieses Produktes aus?
Die Nachvollziehbarkeit der Markenversprechen ist nicht mehr gewährleistet.
Im Direct Sales und Agenturmodell wird die Vorgehensweise beim Autoverkauf weitestgehend standardisiert. Die Autos werden komplexer, intransparenter und gleichzeitig versuchen wir, den Verkaufsprozess zu standardisieren.
Tobias Bald: Ja. Ich frage mich, was mit der von Dir angesprochenen Standardisierung im Kern erreicht werden soll.
Die Hersteller gehen in das Agenturgeschäftsmodell, um etwas zu transformieren, um etwas zu verändern. Es wird festgestellt, dass wir vor der grössten Transformationsherausforderung in der Geschichte des Automobilvertriebs stehen. Und immer, wenn ich das lese, dann frage ich mich: Wohin führt diese transformative Herausforderung?
Der Motivationspsychologe Heinz Heckhausen hat uns gelehrt zu fragen: Von wo nach wo genau wollen wir uns denn transformieren? Welchen Zustand wollen wir verlassen? Welchen Zustand wollen wir erreichen und warum? Auf diese Situation übertragen lautet die Frage: Wie wollen wir genau in Zukunft handeln, wenn wir im Agenturgeschäftsmodell sind? Und was wollen wir genau erreichen?
Das Agenturgeschäftsmodell ist da, um etwas zu verändern. Und da wurden sehr viele Ziele verfolgt. Man wollte Vertriebskosten senken. Den Kunden direkter betreuen. Weniger Nachlass geben. Also betriebswirtschaftliche Ziele.
Doch welches Leitbild genau soll sich in der Zusammenarbeit in den vertikalen Vertriebsstrukturen zwischen OEM, NSC, Agenten bis hin zum Kunden verändern? Und welchen Vorteil haben wir? Welchen Vorteil hat der Endkunde?
Bei dem gegenwärtigen Fokus auf Funktionen und Prozesse haben wir den Blick verloren, was wir genau mit dieser Transformation erreichen wollen.
Nehmen wir Standardisierung. Ist das ein Ziel? Ist das eine Lösung? Denn wenn es eine Lösung ist, was genau wollen wir über Standardisierung erreichen? Wozu machen wir das? Gibt das dem Kunden mehr Sicherheit? Verschafft es mehr Transparenz? Oder geht es um effizienteres Arbeiten und Kosten sparen? Oder beides?
Also transformieren wir um des Transformierens Willen, ohne genau zu wissen, was exakt unser Zielbild ist.
Tobias Bald: Ich habe eine Vermutung zum Zielbild, weil ich damit schon vor 15 Jahren konfrontiert wurde. Es ist eine legitime Vermutung, dass die OEMs und NSCs ihr Auge auf das grösste Kapital geworfen haben, was der Händler heute noch hat: die Kundendaten.
Diese lagen im alten Geschäftsmodell beim Händler. Die hat der Händler auch in seinem Tresor verschlossen, in seinem DMS oder in seinen Systemen nicht zur Verfügung gestellt. Da will man jetzt ran.
Und das Agenturgeschäftsmodell ist natürlich ein Weg, um an diese Daten heranzukommen, was bis dato nie gelungen ist.
Aber auch hier drängt sich mir dann die Frage auf: Was machen wir konkret mit diesen Daten? Wie nutzen wir diesen Pool an Know-how über den Kunden auf den drei Vertriebsstufen und in den digitalen und analogen Kanälen? Mit welcher Zielsetzung?
Darüber wird zumindest in meinen Kontexten kaum gesprochen. Sondern es geht ausschliesslich um Prozess und Funktion. Nicht um Verbesserung von Kundenzufriedenheit, nicht um Durchgängigkeit der Customer Journey zum Beispiel im Sinne der Kundenerwartungen. Das ist von eher untergeordneter Bedeutung momentan.
Woran liegt das, dass wir uns jetzt überwiegend mit Prozessen und Systemen beschäftigen?
Tobias Bald: Ich glaube, es hat zwei Gründe.
Der eine Grund ist vordergründig, dass wir uns mit der Einführung des Agenturgeschäftsmodells auf Seiten der OEMs und NSCs nicht ausreichend Gedanken gemacht haben darüber, welche Prozesse und Funktionen künftig in unsere Hoheit übergehen werden. Und es fehlt die Kompetenz, diese Prozesse und Abläufe durchzuführen, die bis dato vom Händler abgewickelt wurden.
Ich nehme ein konkretes Beispiel: Das Bestelldatenmanagement lag in der Vergangenheit in der Verantwortung des Handels. Der Disponent im Handel hat eine Bestellung an den Hersteller übertragen. Die Disponenten wissen, wie das geht. Genauso wie zum Beispiel die Zahlungsabwicklung durch den Kunden. Das sind Abläufe, die im Agenturgeschäftsmodell in Zukunft beim NSC durchgeführt werden müssen. Aber dort gibt es keine Prozesse dafür, da gibt es keine Systeme und keine Funktionen. Und deswegen ist gerade die Not erst mal primär so gross, sich mit Prozessen und Systemen beschäftigen zu müssen, um überhaupt den Geschäftsbetrieb aufrechterhalten zu können.
Das ist mal der vordergründige Punkt.
Der Zweite ist ein anderer. Was ich vorhin Leitbildwechsel nannte. Es ist menschlich, sich auf das Handlungsfeld zurückzuziehen, was uns vertraut ist. Die NSCs und OEMs haben eine hohe Prozesskompetenz. Sie wissen, wie die Abläufe aussehen, sie wissen, welche Anforderungen es an Systeme gibt, und sie wissen, wie man Projekte macht.
Zu einer durchgängigen Customer Journey wäre aber ein Denken vom Markt her, ein Denken vom Kunden her und ein Anpassen der Abläufe an die Bedürfnisse des Kunden vonnöten. Denn nur so können wir uns im Wettbewerb differenzieren.
Aber wir denken immer noch so wie zu meines Grossvaters Zeiten:
Was wird sein, wenn wir Überproduktion haben? Wie können wir dann die Lagerfahrzeuge subventionieren, um sie abzuverkaufen? Das ist wie in der alten Welt vor 50 Jahren. Stückzahlen sind wichtiger als Kundenbedürfnisse!
Und das ist meines Erachtens das falsche Denken.
Wenn wir vom Markt herdenken würden, dann würden wir schauen: Was möchte denn der Kunde? In welcher Form möchte er es? Wie können wir ihm Lagerwagen attraktiv machen, in verschiedenen Kanälen, so dass er zufriedenstellend betreut wird?
Dazu braucht es aber ein Umdenken. Und das ist schwierig. Das ist derzeit kaum möglich für die Betroffenen, die in den Projekten heute tätig sind, wenn es um die Transformation geht.
Die Preisbildung wurde bisher durch den Händler vorgenommen. Zukünftig macht der Hersteller Endkundenpreise. Nicht Preisnachlässe, sondern wirklich Endkundenpreise.
Tobias Bald: Es gibt verschiedene Modelle derzeit, die von den Herstellern eingesetzt werden.
Zunächst ist es mal so, dass der Agent für seine Vermittlungsleistung entlohnt wird und dafür eine Vermittlungsprovision erhält, die weit unter dem liegt, was bis dato seine Marge war. Was auch dazu geführt hat, dass die Händler und künftigen Agenten Sorge um ihre hauptsächliche Ertragsquelle hatten.
Wenn es Absatzdruck gibt, stellt sich natürlich der Hersteller die Frage: Wie können wir eingreifen, um spezifische Modelle in spezifischen Kundengruppen zu spezifischen Zeitpunkten und vielleicht auch in spezifischen Vertriebskanälen, nämlich online oder beim Agenten, ganz gezielt unterstützen?
Ein Trend, den ich insgesamt gut und förderlich finde, ist, nicht mehr wie in der Vergangenheit an alle und jederzeit Nachlässe mit der Giesskanne rauszuhauen, sondern Verkaufsvorgänge so zielgenau wie möglich zu unterstützen.
Also nicht mehr Schrotflinte, sondern Blattschuss.
Man schaut konkret: In welcher Situation befindet sich der Herr Szameitat? Ist er bereit, online zu kaufen, oder möchte er vom Agenten betreut werden? Für welches Modell interessiert er sich? Dann geben wir Steffen Szameitat einen spezifischen Nachlass, um ihn zu überzeugen, dieses Lagerfahrzeug online bei uns zu kaufen.
Und da haben wir verschiedene Möglichkeiten über Gutscheine, Voucher oder ähnliches. Aber kundenspezifisch und nicht pauschal.
Sind wir auf dem Weg in die echte Agentur?
Tobias Bald: Wir tun uns noch schwer mit dem Schritt in die echte Agentur.
Was ja heissen würde, dass die NSC für Lagerbestandsmanagement, Vorführwagen und für die Risiken, die bis dato der Händler getragen hat, die Verantwortung übernehmen müssten.
Das ist bei vielen Herstellern derzeit noch nicht möglich, weil die Prozesse und Funktionen dafür noch nicht zur Verfügung stehen. Und deswegen befinden wir uns bei vielen gerade noch in der unechten Agentur, wo der der Agent zwar als Vermittler auftritt, aber ihm die Verantwortung beispielsweise für Lagerwagen, Vorführwagen und Bestandsmanagement noch nicht abgenommen ist. Er teilt sich die Aufgaben mit dem NSC.
Wie können Händler verloren gegangenen Umsatz auffangen?
Also ist die Vision von Tobias Bald: Den Service, das Erlebnis rund um den Autohandel in eine neue Dimension bringen. Darüber ein höherer Share of wallet für alles, was Mobilität angeht. Aber dazu muss der Händler sich einige neue Kompetenzen aneignen.
Tobias Bald: Unbedingt.
Und nicht nur der Agent einerseits, aber die NSCs genauso. Es muss sich ein anderes Denken festsetzen.
Es geht immer von der eigenen Haltung aus: Wenn ich meine Haltung ändere, dann ändere ich mein Denken. Wenn ich mein Denken ändere, ändere ich mein Handeln.
Und das ist, was ich unter Paradigmenwechsel, einem neuen Leitbild verstehe.
Was wir heute bei der Einführung des Agenturgeschäftsmodells machen, ist, Prozesse reorganisieren, funktionale Anforderungen an die Systeme stellen. Aber das ist Oberfläche. Das ändert nicht das Verhalten des Menschen, der mit dem Kunden in Interaktion ist. Solange das so ist, wird sich auch diese Transformation nicht vollziehen.
Mutig wäre zu sagen: Wir gehen jetzt den Schritt in das Ungewisse und denken die Prozesse vom Kunden her. Und leiten daraus die Anforderungen ab, die wir an den Agenten, an das NSC und an alle anderen Beteiligten in dem Prozess haben.
Was sind denn in diesem Bild die wesentlichen Fehlannahmen seitens der NSCs der Importeure?
Tobias Bald: Was alle NSCs, mit denen ich zu tun habe, derzeit überrascht, ist, wie viele und wie komplexe Aufgaben sie übernehmen müssen. Die bis dato vom Handel durchgeführt werden. Und wie viel Kosten das nach sich zieht.
Was das an Ressourcenbedarf nach sich zieht, an Menschen, die das abwickeln müssen, was bis dato der Handel getan hat.
Ein weitere, überraschende Erkenntnis der Hersteller ist, dass mit Kundendaten noch keine Kundennähe geschaffen ist. Wir sehen das bei den Anbietern, die die Vertriebsstufe Agent überspringen, nämlich zum Beispiel Tesla. Dass es schon auch unzufriedene Kunden gibt, im Beispiel Reklamationsfall. Wenn du plötzlich keinen Menschen vor dir hast, mit dem du über deine Unzufriedenheit sprechen kannst.
Das heisst, man kann diese Vertriebsstufe einsparen und da vielleicht auch Kosten sparen. Aber die Frage ist, ob man das will im Sinne der Dienstleistung am Kunden.
Oder andersrum gefragt, ob der Kunde nicht vielleicht auch bereit ist, für gewisse Dienstleistungen, die für ihn erbracht werden, Geld zu bezahlen, wenn ihm dadurch eine Sorge genommen wird.
Das bedeutet, es gibt keine Patentlösung für den Vertrieb. Sondern es geht darum, wie ich mich mit meiner Marke positionieren will. Eine Marke im Billigsegment kann sich mit Sicherheit im Direktvertrieb besser positionieren als eine Premiummarke.
Gleichzeitig muss eine Premiummarke sich überlegen, wie sie ihren Kunden in ihrem Ökosystem halten kann und proaktiv betreuen kann, so dass er nie das Bedürfnis entwickelt, dieses Ökosystem zu verlassen.
Und da sind wir noch sehr weit von entfernt mit den deutschen Marken.
Die Chefs der Hersteller sind meistens Ingenieure. Mit deiner sehr starken Retailerfahrung, wenn du ihnen einen Brief schreiben würdest: Was wären so deine Kernbotschaften an die deutschen CEOs?
Tobias Bald: Ich würde einen „purpose-driven“ Ansatz wählen.
Überlegen Sie sich bitte, was Sie ausmacht. Was Ihre Marke ausmacht, wer Ihre Kunden sind und was Ihren Kunden wichtig ist. Und bauen Sie das Haus Ihres betriebswirtschaftlichen Erfolges auf den Kundenbedürfnissen und dem „Purpose“ Ihrer Marke auf.
Das bedeutet in der Konsequenz, dass Sie auch Ihre Ressourcen, insbesondere die menschlichen Ressourcen, so auswählen, dass es diesem „Purpose“, diesem Daseinszweck gerecht wird, den Ihre Marke hat.
Denn das ist es, was Menschen bindet.
Menschen werden gebunden und erreicht über Emotionen, nicht über Technik. Das gilt auch für Technikaffine. Emotion ist, was Menschen eigentlich bindet und ein attraktives Zielbild darstellt. So ist die Marke Porsche eine stark emotional aufgeladene Marke, wo die Kunden sogar zum Teil bereit sind, gewisse Defizite oder technische Probleme in Kauf zu nehmen. Nur weil diese Marke ein spezifisches Bedürfnis des Kunden befriedigt.
Daran kann man gut sehen, wie wichtig Emotion für den Vertrieb ist.
Steffen Szameitat: Danke, Tobias. Grossartiges Gespräch.